Schopenhauer und der Pessimismus

Schopenhauer und der Pessimismus
Schopenhauer und der Pessimismus
 
»Ich war«, sagte Arthur Schopenhauer im Rückblick über sich selbst, »als Jüngling immer sehr melancholisch und einmal, ich mochte ungefähr 18 Jahre alt sein, dachte ich, noch so jung bei mir: Diese Welt soll ein Gott gemacht haben? Nein, eher ein Teufel -?« Der Ausarbeitung und Begründung dieser jugendlichen Intuition war sein ganzes Philosophieren gewidmet. Anderthalb Jahrhunderte zuvor hatte Leibniz das physische Übel und das Böse in der Welt theologisch-moralisch gerechtfertigt und dafür die Formel von der Welt als der »besten aller möglichen Welten« verwendet. Gegen die verschiedenen Spielarten des metaphysischen »Optimismus«, nicht zuletzt auch gegen Hegel, der die Weltgeschichte als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« sah, zog Schopenhauer unermüdlich zu Felde. Er setzte solchem Optimismus die Antithese entgegen, dass die Welt so schlecht ist wie sie nur sein kann, damit sie überhaupt bestehen kann. War für Leibniz das Übel integrales Moment der göttlichen Vollkommenheit, so stellte umgekehrt für Schopenhauer das natürliche Gute, das Ineinandergreifen und Funktionieren der natürlichen Lebensbedingungen, nichts anderes als die unerlässliche Bedingung für die bloße Existenz der Welt da.
 
Leibniz' Vernunftkonstruktion hatte freilich schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum mehr überzeugt, einer Zeit, in der unter Vernunft nicht mehr ein metaphysisches System der objektiven Realität, sondern eine subjektive Tätigkeit des Erkennens und zweckgerichteten Handelns verstanden wurde. Damit hatte auch das Widervernünftige, das Leiden, die Unberechenbarkeit des Daseins, die Erfahrung der Endlichkeit, die Sinn- und Wertlosigkeit des Daseins, eine andere Bedeutung bekommen. Schon die scheinbar optimistische Vernunftaufklärung dieser Zeit war von einem melancholischen und nihilistischen Lebensgefühl grundiert gewesen. So hatte Rousseau die Kultur als einen Prozess der Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur gezeichnet. Solche Auffassungen erhielten den Namen »Pessimismus« zunächst im Anschluss an eine literarische Kontroverse um den Optimismus, gegen den sich Voltaire 1759 mit seinem Roman »Candide ou l'Optimisme« gewandt hatte. Dabei wurden die polemisch aufeinander bezogenen Ausdrücke »Pessimismus« und »Optimismus« meist ironisch distanziert gebraucht. Die literarische Romantik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhalf dann dem pessimistisch-nihilistischen Lebensgefühl weithin zur Popularität. Erst allmählich, und schließlich eindeutig mit Schopenhauer, wurde der Pessimismus zur Bezeichnung einer philosophischen Lehre.
 
Seit Schopenhauer wandte man den Begriff des Pessimismus auch auf vergangene Epochen an. Ausgehend vom eigenen Lebensgefühl entdeckte man im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr pessimistische Züge in der antiken Philosophie, in. Christentum, Brahmanismus und Buddhismus, zuletzt auch bei Kant und Hegel. In der Tat finden sich Lebensverzicht und Weltverachtung in vielen Religionen und philosophischen Lehren seit der Antike. Die Erde als Jammertal, die Klage über die Vergänglichkeit des Glücks und die Vergeblichkeit des Hoffens, die Empfehlung einer Distanz zur Welt, all dies gibt es auch in den »optimistischen« Religionen und Philosophien. Aber Schopenhauer machte als Erster den Pessimismus zum Zentrum seiner Metaphysik. Und diese radikale Thematisierung der Negativität unterschied ihn von der fachwissenschaftlichen Philosophie. Während bei den vorangegangenen pessimistischen Anschauungen die Zerrissenheit des Lebens auf irgendeine Weise schließlich doch noch in eine jenseitige oder diesseitige Versöhnung überführt wurde, hielt Schopenhauer an einem unversöhnbaren Dualismus zwischen »Wesen« und »Erscheinung« der Welt fest. Die Welt als »Erscheinung« ist die der lebensdienlichen und lebensvernichtenden, instrumentellen Vernunft, des sich selbst erhaltenden Ichs. Alle empirische Erkenntnis - hierin folgte Schopenhauer Kant - bezieht sich auf die Welt, insofern sie das Konstrukt unserer Wahrnehmung und unseres Verstandes ist, die der Selbsterhaltung dienen. Das »Wesen« dieser Welt, das freilich nur von einem überindividuellen Standpunkt aus erkennbar wird, ist - und hierin ging Schopenhauer entschieden über Kant hinaus - der blinde Drang des »Willens«.
 
Schopenhauers Lehre gründet in der Erfahrung der Gefangenschaft des Ichs in einem Leib, der mit seiner Sinnlichkeit, seinem Begehren, seinem Willen als fremd und bedrohlich erscheint. Von Anfang an suchte Schopenhauer nach einem Weg, diesem im Leib unmittelbar erfahrenen Willen zu entkommen. Der Leib ist für ihn nicht nur, entsprechend der Auffassung seiner idealistischen Vorgänger, eine Vorstellung des denkenden Ich und damit ein Teil der Welt als Erscheinung. Dieses Ich hat nicht nur Vorstellungen von der Welt, es spürt sich zugleich als Lust, Schmerz und Begehren, als Wille. Und da dem Menschen, so Schopenhauer, diese (und nur diese beiden) Erfahrungsweisen - die Vorstellungen und der Wille - gegeben sind, ist der Schluss berechtigt, dass auch die Welt insgesamt nicht nur menschliche Vorstellung, sondern zugleich an sich Wille ist.
 
Der Wille ist das Wesen und die Wahrheit der Welt, aber diese Wahrheit ist das Unerträgliche schlechthin. Der Wille in uns verbindet uns mit der Natur, doch diese Natur hat nichts Tröstendes und Bergendes, nichts von kosmischer Harmonie, sondern alles vom gnadenlosen Kampf ums Dasein. Dem Willen wesentlich ist, dass er sich entzweit und gleichsam selbst verzehrt. Von solcher Übereinstimmung des Menschen mit der Natur ist keine Versöhnung zu erhoffen, und auch nicht von der Vernunft, die nur die Magd des Willens zum Dasein und Wohlsein ist. Das Leben erscheint als unaufhörliches Kampfgetümmel, in dem die einzelnen Individuen dem sinn- und ziellosen Fortbestehen ihrer Gattung geopfert werden. Dieses pessimistische Bild der Welt ist dennoch nicht vollständig trostlos. Denn indem der Wille, in Gestalt der philosophischen Selbstbesinnung, sich seiner inne wird, »ent-spannt« und verneint er sich. Er kommt zur Einsicht des altindischen »Tat twam asi«: »Das alles bist du«. Andere Formen der Selbstverneinung des Willens sah Schopenhauer in der Kunst, in der Askese und in der moralischen Regung des Mitleids. Sie alle beinhalten eine mehr oder weniger weit gehende Überwindung der Grenzen des Ich. Mitleid bildete für Schopenhauer den Kern der Moral, weil sich in ihm das Individuum mit einem anderen identifiziert. Schopenhauers Annahme, dass der Wille sich selbst verneinen könne, ist inkonsequent und konsequent zugleich: Inkonsequent, da der Wille doch das allein Herrschende sein soll, das der Vernunft keinen Raum für ein souveränes Erkennen und Handeln lässt, und konsequent, insofern schon die bloße Möglichkeit der Reflexion des Willens, wie Schopenhauer selbst sie unternimmt, darauf verweist, dass seine Herrschaft nicht grenzenlos sein kann.
 
Diese Metaphysik des Willens war das düstere Echo auf den Triumph des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Schopenhauer griff die traditionell metaphysische Frage nach dem Wesen der Welt, das den vergänglichen und täuschenden Erscheinungen zugrunde liegt, auf, aber seine Antwort benannte keine außerhalb ihrer liegende Instanz der Sinngebung (Gott, Geist, das Absolute) mehr, sondern stieß statt dessen auf die blinde Immanenz der Natur. »Pessimist« war er, weil er angesichts dieses Befundes noch zutiefst erschauderte.
 
Im ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde der Pessimismus zur Modephilosophie. Doch schon bald nach Schopenhauer wurde ihm, angesichts der lebensprägenden Erfolge von Naturwissenschaft und Technik, die negativistische Spitze abgebrochen. So proklamierte Eduard von Hartmann einen »wissenschaftlich begründeten Pessimismus«, der zwar mit Schopenhauer noch das Pathos der vollständigen Illusionslosigkeit über die Welt teilte, aber dessen asketische, lustverneinende Konsequenzen vermied. Individuelles Leiden wurde hier im Namen eines erhofften kulturellen Fortschritts doch wieder gerechtfertigt. Von Nietzsche angeleitet, emanzipierte sich schließlich der Pessimismus im 20. Jahrhundert von metaphysischen Weltdeutungsansprüchen. Er wurde zu einem illusionslosen Realismus, in dem sich der überkommene Gegensatz zum Optimismus auflöste. Der Mensch galt nun weder als ursprünglich gut noch eigentlich böse, sondern als das nicht festgestellte, formbare Wesen.
 
Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr
 
 
Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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